Kieferfehlstellung ursächlich behandeln

CMD - Kieferfehlstellung ursächlich behandeln

Vor unseren Ausführungen zur ursächlichen Therapie möchten wir noch mal darauf hinweisen - wir als Physiotherapeuten können eine vorliegende Gelenkfehlstellung in den Kiefergelenken nicht ursächlich therapieren. Die Gelenkstellung ergibt sich aus Ihrer durch die Verzahnung resultierende Bißlage. Dennoch können wir viel bewirken, einiges halten wir zwar nicht für unverzichtbar, aber dringend geboten.

Zwei Ziele für die beiden von uns definierten Hauptprobleme einer craniomandibulären Dysfunktion CMD besteht darin, den Unterkiefer in Bezug auf die Gelenke in eine symmetrische, zentrierte und entlastete Position zu bringen. Dazu ist es erforderlich, die Schiene in bestimmten Zeitabständen vom Zahnarzt anpassen zu lassen. Das zweite Ziel ist die Reduktion der Kaumuskelaktivität. Eine Voraussetzung um das zweite Ziel zu erreichen, ist die zuvor beschriebene entlastete Gelenkzentrierung. 

Nur Nachtschiene oder Tag- und Nachtschiene ?

Eine Schiene ist ein vorübergehendes Hilfsmittel, das bei der ursächlichen Therapie einer Kieferfehlstellung dazu genutzt wird, die individuelle Unterkieferposition einzustellen. Dazu ist es aus unserer Sicht erforderlich, eine Schiene zu nutzen, die auch am Tag getragen wird. 

Sofern die Fehlstellung schon längere Zeit besteht, haben sich alle Weichteilstrukturen der Kieferfehlstellung angepasst. Diese Anpassung der Weichteile hat zur Folge, dass der Unterkiefer umgehend wieder ins seine Fehlstellungsposition gezogen wird, sobald die Schiene nicht getragen wird. Die Muskulatur ist verspannt und verkürzt, sie gibt anfangs nicht genug Länge her. Die Gelenkkapsel der Kiefergelenke ist verklebt und dehnt sich nicht weit genug auf, die notwendige Elastizität ist nicht vorhanden. Die Bänder sind verkürzt und das Bindegewebe gibt nicht genug Raum für eine dauerhaft entlastete Positionierung des Unterkiefers. 

Alle diese Strukturen sollten sowohl manuell behandelt werden, darüber hinaus benötigen alle diese Strukturen immer wieder Reize, sich einer neuen Gelenkstellung des Unterkiefers anzupassen. Sofern eine Schiene nur nachts getragen wird, können diese Reize nicht ausreichend sein. Die Reize zur Gewebeveränderung werden dadurch erzielt, dass die Weichteilstrukturen arbeiten und immer wieder in Funktion sind, während der Unterkiefer durch eine Schiene den Unterkiefer in eine neue Position nach und nach hinein manövriert. Es ist ein Prozess der Veränderung. Diese Reize erfolgen durch den tagaktiven Gebrauch der Strukturen beim sprechen, lachen, gähnen und unbewussten Unterkieferbewegungen. All diese notwendigen Reize bleiben während der Schlafphase aus, die Dehnung durch die Nachtschiene ist rein passiv, die Anpassungsvorgänge sind insbesondere für das Bindegewebe unzureichend.

Das bedeutet nicht, dass Sie durch eine Schiene, die Sie nur des Nachts tragen, nicht beschwerdefrei werden können. Das wurde im Kapitel der Verbesserung der Kompensationsfähigkeit bereits beschrieben. Hier geht es um die Korrektur, die zum Ende der Therapie eine zahnärztliche oder kieferorthopädische Anpassung der Verzahnung zur Folge hat. Wenn die neue Unterkieferposition endgültig eingestellt ist, wird diese durch eine neue, dazu passende Okklusion wieder verriegelt. Zumeist sind dafür entweder kieferorthopädische und/oder zahnärztliche Maßnahmen notwendig.

Manche Patienten wollen durch die Schienentherapie zwar die richtige Unterkieferposition einstellen lassen, aber aus unterschiedlichen Gründen die Angleichung der dazu passenden Verzahnung durch den Zahnarzt und/oder Kieferorthopäden zeitlich aufschieben. 
Mitunter ist es möglich, sich von seinem Zahnarzt oder Kieferorthopäden einen "Kopierschlüssel" für die endgültige Schiene anfertigen zu lassen. Dadurch ergibt sich die Möglichkeit, die Schiene zu reproduzieren, sofern nach einiger Zeit wegen Verschleiß eine neue benötigt wird oder aber die Schiene eventuell mit dem Pizzakarton entsorgt oder in der Serviette im Restaurant vergessen wurde.

Wir halten dieses Aufschieben aus folgenden Gründen nur für suboptimal:
Immer wenn Sie essen und die Schiene dazu rausnehmen, sind Sie aufgrund der immer noch vorhandenen "alten" Okklusion im Muster der Unterkieferfehlstellung. Ihr Nervensystem hat diese Position auch noch abgespeichert. Und das ist nicht nur beim Essen der Fall, sondern auch immer dann, wenn man mal vergisst, die Schiene zu tragen. Und das wird leider öfter der Fall, wenn man erst mal beschwerdefrei ist - es gibt ja anscheinend kein Problem mehr. Dieser permanente Wechsel im Soll und Ist-Abgleich kann Ihr Nervensystem in Verarbeitungsstörungen bringen. Dabei geht es um die Position, in der Ihr Unterkiefer eigentlich sein sollte und der Position, in der Ihr Unterkiefer ohne Schiene ist.

Der nächste Punkt beinhaltet, dass mit der permanent getragenen Schiene über ein langen Zeitraum Ihr Unterkiefer keine stabile Position findet. Aufgrund der fehlenden Verzahnung "schwimmt" der Unterkiefer insbesondere Nachts. Das kann die Kaumuskelaktivität fördern, das zweite große Problem einer craniomandibulären Dysfunktion CMD.

Sowohl Ihr Nervensystem, als auch Ihre Kaumuskulatur können dadurch negativ beeinflusst werden. Sicher gibt es auch aus zahnärztlicher Sicht noch Aspekte, die eine Rolle spielen und negative Folgen nach sich ziehen können. Zur Erläuterung dazu fehlt uns allerdings die fachliche Expertise. Ihr Zahnarzt weiß mehr dazu.

Wie geht es weiter mit der begleitenden Therapie ?

Sofern Ihre Verzahnung durch die Schienentherapie aufgehoben ist, muss Ihre individuelle Unterkieferposition gefunden werden. Jetzt könnte man davon ausgehen, dass der Körper mit der Zeit die Position alleine finden wird. Für die Betroffenen könnte das `gefühlt´ der Fall sein, die Realität sieht jedoch zu oft anders aus.

Wenn Ihr Unterkiefer frei ist, wird dadurch die Dominanz der absteigenden Kette hinsichtlich Ihrer Muskelspannung und Körperhaltung aufgehoben. Ihre Unterkieferposition wird in erste Linie über die Weichteile, insbesondere der Muskelspannung bestimmt. Darüber hinaus sind weitere Einflussfaktoren wirksam, dazu zählen Ihre Kopfgelenke, Ihre Halswirbelsäule, Ihre Körperhaltung und Körperstatik und andere noch nicht korrigierte Fehlstellungen.

Die Behandlung zur Korrektur weiterer Fehlstellungen

Wie im Kapitel über die Kompensationsfähigkeit bereits geschrieben, ist es wichtig, alle Fehlstellungen zu korrigieren. Dafür ist es sinnvoll, folgende Fehlstellungen zu untersuchen und gegebenenfalls zu behandeln:

Atlasfehlstellung

Wenn die Atlasfehlstellung vorliegt, ist sie immer asymmetrisch. Diese Asymmetrie wirkt sich direkt auf die Muskelspannung der kurzen Nackenmuskulatur aus. Diese wird sowohl an die Kaumuskulatur übertragen und in Form von Haltungsstörungen und auch Symmetriestörungen an den Körper weitergereicht. 

Beckenstufe und verrutschte Fußwurzelknochen

Ein verrutschter Fußwurzelknochen kann sich, eine Beckenstufe wird sich auf jeden Fall auf die Körperstatik auswirken. Aufgrund der Tatsache, dass nur eine Seite betroffen ist, wird sich die Auswirkung in einer aufsteigenden Kette asymmetrisch zeigen.

Steißbeinfehlstellung

Die Behandlung einer Steißbeinfehlstellung kann vorhandene Zugspannung vom gesamten Nervensystem nehmen, da die Gehirnhaut bis ins Steißbein reicht. Betroffen ist ebenso der Beckenboden und in Verbindung damit unter Umständen auch die Stabilität des Behandlungsergebnisses, wenn eine funktionelle Beckenfehlstellung in Form einer einseitigen Verdrehung vorliegt. Weiteres finden Sie unter dem Thema Steißbein.

Funktionelle Fehlstellungen

Durch die mit einer craniomandibulären Dysfunktion CMD verbundenen Instabilität kommt es immer wieder zu Beckenfehlstellungen in Form von einseitigen Verdrehungen und Kreuzbeinfehlstellungen. Beides sollte immer wieder behandelt werden. Um den möglichen negativen Einfluss auf die Kieferstellung aufzuheben, empfehlen wir direkt vor dem Einschleifen der Schiene eine manuelle Entkopplungsbehandlung durchführen zu lassen. Dazu gleich mehr....

Weitere Behandlungsmaßnahmen zur Begleitung der Therapie einer Kieferfehlstellung

Verbesserung der Körperhaltung

Ihr Unterkiefer ist über das darunter liegende Zungenbein (Knochen über dem Kehlkopf) sowohl mit den Schulterblättern, als auch mit dem Brustbein verbunden. Jede Form von Haltungsstörung, in der Ihr Kopf nicht in der Lotlinie Ihres Körpers ist, kann sich direkt über Muskelzug auf Ihren Unterkiefer auswirken, wobei er nach hinten gezogen oder hinten gehalten wird - im ungünstigsten Fall auch noch asymmetrisch.
In dem von uns verfolgten Konzept empfehlen wir als mögliche effektive Behandlungen
  • die Atlaskorrektur
  • Rolfing als Faszientherapie
  • Eigenübungen als Hausaufgabe
Die Eigenübungen können dabei genau so wichtig sein, wie das tagaktive Tragen Ihrer Schiene. Sie liefern die notwendigen Impulse für Ihre Weichteilstrukturen für die gewünschten Anpassungsvorgänge. Für die Auswahl an Übungen und das Übungsausmaß spielt Ihr tägliches Bewegungsverhalten und Ihre sportliche Aktivität eine zu berücksichtigende Rolle. 

Die Behandlung der Halswirbelsäule

Hier finden sich viele, oft über lange Zeit entwickelte Spannungsmuster in der Muskulatur wieder. Diese behandeln wir ebenso wie noch vorhandene Wirbelblockierungen. Diese sind vor allem wichtig auf Höhe des 2. und 3. Halswirbels, da sich dort der Trigeminusnerv befindet und unbehandelte Blockierungen zu Verarbeitungsstörungen und Reflexnieveausteigerungen im Nerv führen können.

Für die vorhandenen Instabilitäten zeigen wir Ihnen Übungen, um die neuronale Anbahnung für Ihre kurze Muskulatur wieder in Gang zu bringen. Das ist eine Voraussetzung, um die langen Muskeln von Ihrer übernommenen Aufgabe der Stabilisierung zu entlasten.

Die Behandlung der oberen Brustwirbelsäule

Die Mobilisation der oberen Brustwirbelsäule und auch der Rippenwirbelgelenke ist in zweierlei Hinsicht wichtig. Zum einen sitzt hier Ihr Sympathikus, das Nervensystem, das in Schubladen organisiert für viele System des Kopfes regulierend zuständig ist. Blockierungen können dieses Nervensystem einem Stress aussetzen, der sowohl an die Atlasmuskulatur, als auch an die Kiefermuskulatur weitergegeben werden kann. Darüber hinaus können Blockierungen der Brustwirbelsäule zu asymmetrischen Schulterblattstellungen führen. Das sind die Knochen, die auf beiden Seiten über das Zungenbein mit dem Unterkiefer verbunden sind.

Behandlung aller Weichteilstrukturen des Kauapparates

Diese Behandlung ist die manuelle Unterstützung für die Anpassungsreaktionen, die erfolgen müssen, um den Unterkiefer in Ihre individuelle, entlastete und zentrierte Gelenkposition zu bringen. Dazu können folgende Maßnahmen gezählt werden:
  • Entspannung aller Mundschließer
  • Entspannung aller Muskeln, die den Kiefer hinten halten
  • Aktivierung der Mundöffner
  • Aktivierung der Muskeln, die den Unterkiefer nach vorne ziehen
  • Koordinationsübungen für die Mundöffnung und Mundschließung
  • Aufdehnung der Gelenkkapsel des Kiefergelenks
  • Bindegewebsbehandlung (Bänder, orale Bindegewebsstrukturen)
  • Gesichtslymphdrainage
Alle diese Behandlungen können aus Erfahrung auch effektiv dabei helfen, das Zusammenpressen der Zähne zu reduzieren.

Entkoppelung der funktionellen Fehlstatik

Ein Merkmal bei einer langjährigen craniomandibulären Dysfunktion CMD ist die Instabilität in Bezug auf die Behandlungsergebnisse. Die ursächliche Therapie kann sich nicht nur über Monate hinziehen, sondern manchmal auch den Jahreshorizont überschreiten. Das heißt nicht, dass man auch Jahre warten muss, bis eine Beschwerdebesserung eintreten kann. Das ist zum einen erfreulich, birgt aber auch ein Risiko, auf das wir bei der Entkoppelung eingehen wollen. 

Aufgrund der wechselseitigen Wirkung einer craniomandibulären Dysfunktion CMD und der Körperhaltung bzw. Körperstatik ist das Ziel, möglichst schnell die ideale Gelenkposition einzustellen. Dabei ist es wichtig, die vielen hier aufgeführten Einflüsse auf die Kaumuskulatur auszuschalten. Dazu nutzen wir in unserer Praxis für Physiotherapie in Hannover eine Entkoppelungsbehandlung. Eine Voraussetzung dafür ist, dass wir den Patienten kennen und mehrmals behandelt haben, da nicht alle Patienten gleichermaßen reagieren. Nur um ein Beispiel zu nennen, ist die Sensibilität der Patienten und damit das Maß an Behandlungsintensität sehr individuell.
Die Strukturen zur Entkoppelung liegen im Bereich der Halswirbelsäule, der Kaumuskulatur und der Atlasmuskulatur. Dazu kommen entlastende Techniken für die Kopfgelenke. Dadurch kann es gelingen, die wechselseitige Wirkung zu entkoppeln, um den Unterkiefer muskulär für ein kurzes Zeitfenster wirklich frei zu geben. Für Sie als Patient ergibt sich eine gute, nachvollziehbare Kontrolle, ob Ihr Unterkiefer für Sie individuell gut eingestellt ist. Diese Behandlung ist im Idealfall auch vor dem Einschleifen Ihrer Schiene zu empfehlen.

Die Wirkung einer Entkoppelungsbehandlung soll an einem Beispiel veranschaulicht werden: 
Mal angenommen, auf einer Seite fehlt Ihnen im Backenzahnbereich Zahnhöhe, die Zähne hängen in der Luft und es ist kein Zahnkontakt vorhanden. Sie beginnen eine Schienentherapie und haben für den Unterkiefer als Schiene zwei Aufsätze erhalten, die Sie auf jeder Seite der Backenzähne aufsetzen. Ihr Zahnarzt hat es gut gemeint und auf der Seite mit der fehlenden Zahnhöhe die Schiene entsprechend hoch gemacht. Sie reagieren sehr sensibel und die Schiene fühlt sich zu hoch an. Sie haben das permanente Gefühl, dass Sie auf einen Widerstand beißen und haben Sorge, dass hier zu viel Höhe eingebracht wurde, die gar nicht nötig sei.
Wir untersuchen Ihre Kiefergelenke und können Ihnen vom Untersuchungsergebnis her bestätigen, dass die Schiene nicht zu hoch ist sondern eigentlich noch viel zu niedrig, aber die vollständige Erhöhung in einem Behandlungsschritt offenkundig zu viel bzw. zu schnell  für Ihr Nervensystem wäre. Sie können das nicht glauben, denn Ihr Gefühl vermittelt Ihnen etwas anderes. Jetzt führen wir eine Entkoppelungsbehandlung durch und Sie setzten bzw. stellen sich unmittelbar danach hin. Dann bitten wir Sie, mit der im Mund befindlichen Schiene langsam zuzubeißen. Dabei stellen Sie selbst fest, dass der Widerstand, den Sie vor der Behandlung gefühlt haben, weg ist und Ihre Zähne trotz Erhöhung durch die Schiene auf der betroffenen Seite immer noch keinen Kontakt haben.

Was ist passiert ?

Die Erhöhung war für Sie in einem Behandlungsschritt zu viel. Ihr Nervensystem, Ihre Körperstatik, Ihre Körperhaltung und Ihre Kiefermuskulatur waren auf diese Erhöhung doch nicht vorbereitet, was zu Irritationen geführt hat. Eine langsame Erhöhung und eine intensivere Begleitung wären vonnöten gewesen.

Es ist zwar überspitzt dargestellt, zeigt aber auf, wie es sich in der Praxis tatsächlich abspielen kann, nur viel subtiler. Und es zeigt auch, dass die ursächliche Therapie einer Kieferfehlstellung mit CMD-Symptomen viel komplexer sein kann, als man gemeinhin erwartet.
Ein letzter Hinweis zum oben genannten Risiko:

Beschwerdefreiheit im Rahmen einer CMD-Therapie bedeutet nicht, dass sich Ihr Unterkiefer in Ihrer individuellen, idealen, zentrierten und entlasteten Gelenkposition befindet. Es zeigt erst mal nur, dass Ihr Körper die noch bestehenden Funktionsstörungen wieder kompensieren kann. zur Beurteilung gehört daher weit mehr, als nur die erwünschte Symptomfreiheit.
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